
Schweißperlen laufen mir den Rücken hinunter. Mein Make Up vermischt sich mit Angstschweiß. Ich habe Stress, der Abgabetermin für den Bericht „Naturfellmäntel für Trailbikes“ zerrt an meinen Nerven. Immer dieser Eurobike-Stress. Dabei müsste sich der gemeine Rheinländer sehr erfahren geben, im Umgang mit den Massen enthusiastisch schunkelnder Spaßbürger. Gestählt sollte ich sein, durch eine Saison voller Karnevals-, Schützen- und Mai-Umzüge. Eigentlich!
Wo kommen all diese Fachbesucher auf der Eurobike her? So viele Menschen können doch gar nicht vom Fach sein, höchstens Besucher. Nein, so viele Menschen sollen auch gar nicht vom Fach sein. Warum? Leute, ihr seid anstrengend, eure Anwesenheit bedeutet Arbeit. Dabei wollen die Aussteller und die Presse doch auch nur mal ein bisschen Spaß unter Gleichgesinnten haben. Und dann kommt IHR und versaut alles.
Da werden das ganze Jahr Highlights entwickelt, nur um euren Hunger am ewig neuen Kassenschlager zu befriedigen. Von der hohlgebohrten Titanschraube für Trinkflaschenhalter bis zum selbstschnitzbaren Reifenprofil, wir geben euch alles. Selbstlose Menschenfreunde opfern Zeit und Energie, um ein Gespräch über die Sinnhaftigkeit vom Boost-Standard am Leben zu erhalten. Der Verweis auf den totgeschriebenen 150 mm Achsstandard wischen wir als unerheblich zur Seite. Wir entwickeln, produzieren und vermarkten all den Bling-Bling, nachdem euch Junkies verlangt. Weltweit nötigen Foren eine Industrie um ihre Daseinsberechtigung.
Ihr seid die Raupe Nimmersatt, und wollt immer mehr, mehr, mehr. Der unzufriedene Kunde, den es ewig nach noch einen Standard und noch einer Verschlimmbesserung gelüstet. Eure Verantwortung für den Burnout einer ganzen Industrie wird viel zu selten in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Diesem mehr, mehr, mehr, schneller, schneller, schneller kann doch kaum noch einer folgen! Einmal im Jahr möchten wir uns auch mal selber feiern.
Aber der Mob will alles auf einem Flecken präsentiert bekommen. Ab heute wird sich wieder ein Lindwurm erwartungsvoller Konsumjunkies durch den Friedrichshafener Sektentempel schieben, um all dem zu huldigen, was gut und teuer ist. Und wir sind nichts anderes als Drogendealer.
Aber wir brauchen auch mal eine Auszeit.
Einmal im Jahr haben wir was ganz anderes verdient. Lasst uns doch mal in Frieden, damit wir uns selber einmal in Ruhe zuprosten können. Wie schön könnte es sein, sich 5 Tage lang selber zu bebauchpinseln, um Energie für die nächste Saison zu tanken. Wie schön wäre es, die Eurobike in einer immer währenden After-Messe-Party erleben zu dürfen. Eine Feier auf der wir, Entwickler, Produzenten, Vermarkter und Medienvertreter uns 120 Stunden lang in den Armen liegen, 7.200 Minuten auf die Schulter klopfen und 432.000 Sekunden bei Helene Fischer Liedern unseren Namen im Kreis tanzen könnten.
Stattdessen pflegen die Organisatoren der Messe ihr Aufmerksamkeitsdefizit, indem sie uns einen zweiten Besuchertag verschreiben. Oh mein Gott, wie sollen wir armen geplagten Lebensunterhalter ohne Zusatz von Ritalin, diesem Ansturm aus bewegungsdefizitären Tretknechten standhalten?
Entspannte Wellnessurlaube werden nach der Eurobike wieder Hochkonjunktur haben. Erstmalig sind Wellness-Kuren für uns auch verschreibungspflichtig und können über die Krankenkasse abgerechnet werden. Seitdem Kundenphobie als Berufskrankheit anerkannt ist, kriegen tausende Mitarbeiter der Radindustrie endlich mal die Anerkennung und Fürsorge durch unser Gesundheitssystem, die ihnen gebührt.
Endlich muss eine Gesellschaft einsehen, wie selbstlos unser Dienst am Menschen ist. Dem erlittenen körperlichen und geistigen Verfall musste eine aufgeklärte Gesellschaft kollektiv entgegen treten. Die Folgen des Kosumrausches können nicht permanent auf uns Medienvertreter abgewälzt werden. Wir wollen nicht mehr die Sollbruchstelle der Radsportindustrie sein. Schicksalsergeben haben wir Jahre unseres Daseins für euch geopfert. Der Kampf, das Radfahren als anerkanntes Suchtmittel einzustufen, ist durch die „Gemeinschaft leidgeplagter Intensivbiker erobert Deutschland“, kurz G.L.I.E.D. vorangetrieben worden.
An alle, die uns 2015 auf der Eurobike gequält haben: 2016 seid ihr raus! Wir brauchen mal eine Auszeit. Wir feiern uns 2016 mal selber. Aber wir werden uns die Zeit nehmen, euch hier auf mtb-news darüber zu berichten. 2017 dürft ihr dann wieder mit dabei sein, in Demut und Andacht vor unserem „Dienst am Menschen“
Ich wache auf. Ich liege in meinem kleinen Wurfzelt, welches die Redaktion für mich vor den Friedrichshafener Messehallen aufgeschlagen hat. Es regnet und der Schweiß auf meinem Rücken, ist nur das Wasser, das durch eine undichte Naht meines Zelts tropft. Welch ein Alptraum hat mich da nur heimgesucht. Gleich werde ich abgeholt, kriege mein 5-Tage-Carepaket und darf das Messegelände erst am Sonntag wieder verlassen. Ich freue mich schon so auf euch.
In diesem Sinne, Think Pink – Eure Muschi
Anmerkung: Für den Inhalt der Artikel aus der Serie “Muschi am Mittwoch” ist der benannte Autor verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Ansichten und Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider. Für Anregungen und Kritik steht der Autor hier themenbezogen in den Kommentaren und allgemein per privater Nachricht zur Verfügung.